Die Gegend um den Baikal See ist nicht nur landschaftlich schön, sondern auch kulturell spannend und vielfältig. Unser Tourguide Georgi will uns sechs Orte zeigen, die für diese Region besonders bedeutend sind. Vor seiner Pensionierung hat Georgi bei einer NGO gearbeitet, die sich für den Schutz des Baikal Sees einsetzt. Jetzt macht er ab und zu Führungen mit Touristinnen und Touristen und hat – so wie alle hier – auch einen Garten, der für seinen Lebensunterhalt wichtig ist. Obwohl er intelligent sei, müsse er wie ein Bauer arbeiten, erklärt er uns bedauernd.
Die guten Straßen auf der wir die ersten Kilometer unserer Tour fahren, wurden von der Regierung gesponsert, die hier um den Baikal See große Hotels bauen und dafür Investor*innen anlocken wollte. Aber da es an Infrastruktur, wie etwa einem ordentlichen Abwassersystem fehlt, war niemand interessiert hier ein touristisches Zentrum zu schaffen. Georgi ist darüber erleichtert. Ein Hotelkomplex wäre in dieser rustikalen Idylle schon rein optisch äußerst deplatziert, um von den ökologischen Auswirkungen gar nicht erst zu reden.
Aber auch die Einheimischen tragen zur Verschmutzung des Sees bei, die Abwässer der Stadt und der Industrie werden ungereinigt hineingeleitet. Ein nachhaltiger Umgang mit der Natur sei für viele keine Priorität, so Georgi. Dennoch kommt das Trinkwasser für die Region aus dem Baikal, da es aus der Tiefe abgepumpt wird. Außerdem sorgen winzige Flohkrebse für die Selbstreinigung des Sees.
Buddhistisches Zentrum
Die Asphaltstraße endet bereits beim Nachbarsdorf, welches übersetzt „trockener Fluss“ heißt. Dort besichtigen wir einen buddhistischen Wahlfahrtsort. Vor dem Kloster campen eine Vielzahl mongolischer Buddhistinnen und Buddhisten. Unter einer riesigen, offenen Halle sitzen Menschen und hören einem Redner zu. Georgi erklärt, dass wir einen schlechten Tag erwischt haben, da der aktuelle Lama aus Moskau zu Besuch ist und wir deshalb das Kloster nicht besichtigen können. Leider ist uns nicht ganz klar, warum ausgerechnet hier eine Pilgerstätte ist. Georgi sagt, es gäbe dafür keinen speziellen Grund, aber ich bin nicht sicher, ob er es auf Englisch nicht erklären kann oder einfach nicht weiß. Historische Tempelanlagen gibt es hier jedenfalls nicht.
Baikal – der reiche See
Wir fahren ein paar Kilometer weiter zu einer idyllischen Flussmündung. Der Sukhaya Fluss fließt hier in den Baikal See. Pferde und Kühe laufen frei herum, Menschen zelten am Waldesrand und an den sibirischen Lärchen wehen bunte, schamanische Stofffetzen, die Kraftorte markieren sollen. Der Schamanismus existiert in Sibirien in friedlicher Koexistenz mit Buddhismus und orthodoxem Christentum.
Georgi erzählt uns mehr über die einzigartige Flora und Fauna des Baikal Sees. Besonders bekannt ist die Baikalrobbe, Nerpa genannt, sie ist verwandt mit den Eismeerrobben, muss sich aber vor vielen tausenden Jahren auf Süßwasser umgestellt haben – wie das möglich ist, weiß niemand. Der See ist 25 Millionen Jahre alt und das größte, nicht gefrorene Süßwasserreservoir der Erde. Seine Oberfläche (31 700 Quadratkilometer) ist weniger beeindruckend als die Tiefe: Mit 1642 Metern hält der Baikal See den Weltrekord unter den Seen.
Auf der Fahrt zum nächsten bemerkenswerten Ort in der Gegend, passieren wir einen Kraftort – gleich neben der Straße, unweit eines Handymastens, soll ein schamanischer Geist wohnen. Aus den fahrenden Autos werfen die Leute Münzen in den Wald und wünschen sich etwas. Auch Denis hatte das bei der Hinfahrt gemacht und wir hatten uns still gewundert. Bei der Rückfahrt fallen mir nun die Leute neben manchen Straßenabschnitten auf, die das Geld suchen, das die Geister der Schamaninnen und Schamanen nicht brauchen.
Erbe der Ewenken
Der dritte Stopp ist auf den ersten Blick völlig unscheinbar, wir bleiben bei einer verwilderten Wiese gleich neben der Schnellstraße stehen. Georgi erklärt uns, dass hier ein Ort geschaffen wurde, der auf die Kultur des indigenen Volks der Ewenken (alte Bezeichnung Tungusen) aufmerksam machen soll. Durch ein symbolisches Tor treten wir in das Gebiet der Ewenken ein. Zuvor müssen wir noch unsere schlechten Gedanken zurücklassen.
Ein Schrein mit zwei Totempfählen – einer weiblich, einer männlich und mit Totemtieren verziert – präsentiert in ewenkischer Sprache die Gesetze der Ewenken, als sie noch die nomadische Lebensweise pflegten. Im 20. Jahrhundert wurden sie von der russischen Herrschaft zur Sesshaftigkeit gezwungen. Auch die ewenkische Sprache ist mittlerweile bedroht. Georgi gehört zu einer freiwilligen Gruppe von Menschen, die versuchen das Erbe der sibirischen Indigenen zu bewahren.
Animistischer Glaube bis heute
Die Religion der Ewenken ist animistisch, das bedeutet, sie glauben daran, dass alles in der Natur und jedes Lebewesen eine Seele hat. Auch das Schamanentum ist wichtiger Bestandteil dieser Tradition. Anthropologinnen und Anthropologen sehen die ewenkische Form als den klassischen Schamanismus. Sowohl Frauen als auch Männer können Schaman*innen werden.
Es heißt, die indigene Bevölkerung Amerikas stamme von den Ewenken ab, welche über die Beringstraße nach Amerika ausgewandert seien. Georgi erklärt uns das so: „We used to believe there are four races: black, white, red and yellow. But now we know (…dass es keine Rassen gibt, denke ich den Satz zu Ende) …that there are only three races, because the red came from the white Ewenki“. Er meint die Ähnlichkeit zwischen den Ewenken und den Indigenen in Amerika sei eindeutig und zumindest damit hat er Recht.
Burjatischer Schamanismus
Bei einem Kraftort der burjatischen Schaman*innen machen wir unseren vierten Halt. Hier finden sich besonders viele bunte Tücher und Bänder, die an unterschiedlichen Befestigungen hängend im Wind wehen. Mit den Streifen werden Gebete und Wünsche eingebunden, die der Wind zu den Geistern tragen soll. Um einen Schrein können wir dreimal im Uhrzeigersinn gehen und unsere Wünsche wiederholen und dann eine kleine Spende für die Geister dalassen. Neben Münzen finden sich da auch Tic Tacs, ein Fläschchen Sojasauce und Zuckerl. Von der Stätte aus haben wir einen fantastischen Blick auf den Baikal See.
Museum und heilende Thermalquelle
Vorletzter Stopp ist ein volkskundliches Museum, in dem traditionelle Kleider und Werkzeuge der burjatischen Bevölkerung ausgestellt werden. Mittlerweile ist es spät geworden und die Sonne geht knallrot unter. Den finalen Höhepunkt der Tour bildet der Besuch der heißen Quellen, denen heilende Wirkung nachgesagt wird. Leider sind die Quellen nicht wie ich angenommen hatte, in der freien Wildnis, sondern unter einer Plastikplane. Immerhin ist es keine typische Thermenanlage, wie wir sie aus Österreich kennen. Es ist einfach ein Poolbecken, in dem sich russische Badegäste drängen, ohne Sitz- oder Liegegelegenheiten, mit ein paar Umkleiden und einer bewachten Garderobe. Ein wunderbar skurriler und entspannender Abschluss für eine äußerst interessante Tour.
Götterdämmerung
Einen Tag später erleben Stefan und ich am Strand des Baikal einen dramatischen Sonnenuntergang. Die Wolken wirken am Baikal See als würden sie ganz nah an die Erde heranreichen. Gewaltige dunkle Mächte, in Form von Gewitterwolken, kämpfen gegen die guten Kräfte, in Form der sonnendurchfluteten Abendwolken. Kein Wunder, dass der Schamanismus und Geisterglaube in dieser Region so stark ist.
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