Für den ersten Abschnitt unserer transsibirischen Strecke fahren wir drei Nächte und zwei Tage durch. Sehr schnell passen wir uns dem Rhythmus an, den uns der Zug vorgibt. Die Distanzen zwischen den einzelnen Bahnhöfen können schon zwischen 5 bis 7 Stunden liegen. Dazwischen gibt es wenig zu tun. Damit eröffnet uns der Zug Freiheiten, wie wir sie auf gewöhnlichen Reisen selten haben: Wir essen, wann wir Lust haben, schlafen, wenn wir müde sind, machen immer das worauf wir Lust haben, denn es gibt nichts zu verpassen.
Aus der Zeit gefallen
Unser Zeitverständnis verändert sich schon bald. Der Zug bleibt selten stehen, die Landschaft verändert sich kaum, bietet keine Anhaltspunkte über das Fortkommen. Es gibt nichts zu tun. Nicht mal Internet. Für die nächsten drei Tage hat der Zug die Führung übernommen. Uns bleibt nur das Verweilen, während wir doch die ganze Zeit vorankommen. Manchmal verlieren wir wieder eine Stunde, weil wir durch eine neue Zeitzone fahren. Es ist ein traumwandlerischer Zustand und wir scheinen ihn alle vier zu brauchen.
Highlight: Bahnhofaufenthalt
Die Aufenthalte an den jeweiligen Bahnhöfen sind wesentlicher Teil der transsibirischen Reise. Bei jedem Stopp, der zwischen 15 und 30 Minuten dauert, können die Passagiere sich am Bahnsteig ein bisschen die Beine vertreten. Länger halten wir am Kirov Pass, in Balezino, Vereshcagino, Perm, Ekaterinburg, Tyumen, Ishim Omsk und Barabinsk.
Alle strömen in Pyjama oder Jogginghose hinaus, um zu rauchen, Vorräte aufzufüllen und zu telefonieren, weil es die meiste Zeit auf der Strecke kein Netz gibt. Die Provodnizas achten darauf, dass alle wieder rechtzeitig einsteigen.
Bei kürzeren Stopps müssen wir leider drinnen bleiben und spüren dann, wie wichtig die Klimaanlagen sind. Beim Buchen haben wir darauf geachtet, dass unsere Abteile klimatisiert sind – schließlich sind auch in Sibirien die Sommer heiß. Wenn der Zug steht, schaltet sich die Klimaanlage aus und der wahre Geruch in den Abteilen und Gängen tritt hervor.
Ein Bahnhof schöner als der andere
Jedes Bahnhofsgebäude ist eine Sehenswürdigkeit für sich. In bunten Farben, unterschiedlichen architektonischen Baustilen, häufig mit Statuen von Lenin oder anderen russischen Heldinnen und Helden der Revolution gleicht keiner dem anderen. Viele haben auch eine alte Transsib-Dampflok ausgestellt, die auch von den russischen Mitreisenden bewundert wird. Meist dürfen wir direkt über die Gleise gehen, keine Sicherheitsvorkehrungen halten die Passagiere davon ab. Auch die Frauen, die ihre selbstgemachten Speisen oder gepflückten Beeren in Kisten oder Karren feil bieten, gibt es noch, obwohl das aufgrund von Hygienevorschriften eigentlich nicht mehr erlaubt ist.
Hauptsache ist, es macht dich glücklich…
Würde man mich fragen, welche Geräusche oder Melodie ich mit der Transsib-Reise verbinde, wäre die Antwort eindeutig: Bevor Durchsagen gemacht werden, ertönt an jedem Bahnhof eine kurze Melodie, die an den Beginn des Liedes „Glücklich“ von Farin Urlaub erinnert. Die gesamte Reise hindurch begleitet mich dieser Ohrwurm. Gleichzeitig ist der Refrain des Liedes ein brauchbares Motto für die Reise und das Leben überhaupt. Zugfahren macht mich jedenfalls glücklich.
Im transsibirischen Bann
Die Eintönigkeit der sibirischen Landschaft, die am Fenster vorbeirast, wirkt meditativ und hypnotisierend. Birkenwälder, Wiesen mit lila Blumen, ab und zu Siedlungen, selten ein paar Vögel, nie Menschen. Die Sonne geht als großer, roter Ball unter.
Einmal stehe ich am Morgen als erste auf, holpere mit der Eleganz einer Blasmusikkapelle vom Stockbett aus dem Kupe, aber alle schlafen weiter. Eine halbe Stunde starre ich am Gang auf die weite Ebene im Nebel. Ein einsamer Fahrer einer Beiwagenmaschine rast durch die Wiesen ein Weilchen dem Zug nebenher – das ganze kommt mir surreal vor. Dann wieder nur Wiesen, Nebel, Weite. Als plötzlich ein Vogelschwarm auffliegt, wirkt das auf meine Sinne wie ein besonders Spektakel.
Die Zeit im Zug wird nie fad. Wir sind alle entspannt. Lesen oder hören Bücher, schreiben oder lernen Russisch, abends spielen wir Spiele. Als wir nach drei Tagen in Novosibirsk ankommen, wollen wir eigentlich gar nicht aussteigen.
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