Drei Nächte in Novosibirsk, ob das nicht zu lange ist? In den Erfahrungsberichten wird Novosibirsk als wenig sehenswert verunglimpft. Völlig zu Unrecht! Rückblickend war es eine gute Entscheidung hier ein bisschen zu verweilen, da Novosibirsk einen authentischen Einblick ins urbane russische Leben bietet.
Am fünften Tag unserer Russland-Reise kommen wir kurz vor Mitternacht in Novosibirsk an. Glücklicherweise liegt unser Hotel gleich gegenüber des Bahnhofsgebäudes, welches eine Sehenswürdigkeit für sich ist. Im edlen Jugendstil gehalten und mit Warteräumen wie Festsäle gehört der Novosibirsker Bahnhof zu den schönsten entlang der Transsib Route.
Das Marinsky Hotel, in das wir einchecken, ist hingegen ein grauer Koloss. Unser Zimmer liegt im 14. Stock, die Fenster beginnen auf Kniehöhe und lassen sich komplett öffnen – kein Gitter, keine Kindersicherung, aber der Ausblick ist toll. Solange man nicht mit Kleinkindern oder Schlafwandelnden reist, kann das Marinsky auf jeden Fall weiterempfohlen werden, denn es ist günstig und serviceorientiert. Außerdem hat es ein sehr sympathisches Hotel Restaurant, das Beerman & Grill.
In der Hauptstadt Sibiriens
Gejetlagged erkundigen wir am nächsten Tag die Hauptstadt Sibiriens. Wir haben nun bereits vier Stunden Zeitunterschied zu Moskau. Die Innenstadt ist urban, entspannt und birgt reichlich Ost-Charme mit alten Elektrobussen, riesigen Schlaglöchern in den Gehwegen und viel Beton. Da ist es nur stimmig, dass die Stadt über einen Wohnkomplex verfügt, der sich über mehrere Kilometer zieht und den Karl Marx Hof in Wien, wie eine kleine Mehrfamilienanlage aussehen lässt.
Vor dem gigantischen Staatlichen Theater für Oper und Ballett stehen sechs überlebensgroße Statuen – die Helden der Revolution. Selbstverständlich steht in der Mitte Lenin. Diesen Herrn werden wir auf unserer Reise noch sehr häufig zu Gesicht bekommen. Ich schätze wir haben rund 30 Statuen oder Denkmal-Bilder von ihm an den verschiedenen Bahnhöfen und während der Städtebesichtigungen gesehen.
Im Zentrum des alten Russlands
Es hat um die 30 Grad und wir brauchen schon bald eine Pause. Wir kehren in ein sympathisches mexikanisches Restaurant namens Frida Kahlo ein. Die mexikanische Malerin hatte den russischen Revolutionär Leo Trotzky unterstützt. Das bunte Restaurant liegt im oberen Stock eines futuristisch anmutenden Gebäudes, gleich neben der kleinen Kapelle St. Nikolai. Das Wahrzeichen von Novosibirsk steht auf einer Verkehrsinsel zwischen zwei Fahrstreifen. Die Kapelle wurde 1915 anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Romanow-Dynastie gebaut und markierte lange den Mittelpunkt Russlands. Mittlerweile liegt der geographische Mittelpunkt Russlands in Krasnojarsk, aber das erfahren wir erst später.
Schwanensee im größten Ballett-Theater Russlands
Julia und ich wollen unbedingt ins Ballett, schließlich ist Russland dafür genauso bekannt wie für Wodka, Kaviar und Kazachok. Außerdem steht in Novosibirsk das größte Theatergebäude Russlands, das erstklassige Aufführungen anbieten soll. Wir haben Glück und ergattern tatsächlich die letzten(!) zwei Sitzplätze für die Aufführung von Schwanensee (50 EUR pro Person für die 5. Reihe).
Im Publikum sitzen viele Mütter mit ihren kleinen Töchtern, aufgemascherlt mit hübschen Kleidern und Frisuren. Wie viele wohl den Traum haben, einmal selbst auf der Bühne zu stehen? Was die Tänzerinnen und Tänzer leisten, ist mitreißend, beeindruckend und auch verstörend. Die physische Gewalt die Ballerinas aufbringen, um ihren Körpern diese Bewegungen aufzuzwingen ist unvorstellbar. Völlig ergriffen stoßen wir später zu Stefan und Michl, die sich schon einmal mit der Novosibirsker Lokalszene vertraut gemacht haben. Diese ist praktischerweise sehr komprimimiert auf und neben den Straßen Ulitsa Sovetskaya und Lenina zu finden.
Mit Schmutzwäsche durch die halbe Stadt
Am zweiten Tag in Novosibirsk lautet unsere Mission „Wäsche waschen“. Leider führen uns unsere Google Recherchen dreimal zu Putzereien, die unsere Unterhosen nicht entgegennehmen wollen. Die hilfreichen Erklärungen der Angestellten verstehen wir zunächst nicht, irgendwas mit Amsterdam und Studierende. Wie bitte? Wir irren durch Wohngebiete und Gegenden der Stadt, in die sich Touristinnen und Touristen eher selten verirren.
In der dritten Putzerei bekommen wir schließlich eine Adresse notiert. Google sagt, die liegt am anderen Ende der Stadt – leichte Resignation macht sich breit. Da bedeutet uns eine beherzte Kundin, wir sollen ihr folgen. Das tun wir auch und halten kaum Schritt, obwohl die Frau mit weißem Minikleid und Stöckelschuhen unterwegs ist. Sie schnappt meine Hand und zieht mich bestimmt voran. „Work“, erlärt sie. Als sie an der Himmelfahrtskirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorbeigeht, bekreuzigt sie sich im Vorbeigehen. Bei der nächsten Metro-Station angekommen, zeigt sie uns am Fahrplan wo wir aussteigen müssen. Dann verabschiedet sie sich, indem sie uns einen Kussmund zuwirft und ist schon wieder verschwunden.
Wo die Studierenden waschen
Dank dieses Umwegs sehen wir immerhin die schönen Metro-Stationen, die sich von architektonischen, „überirdischen“ Bausünden der Stadt wohltuend abheben. Unser Ziel befindet sich im Amsterdam – ein Einkaufszentrum dessen Außenfassade im Stil niederländischer Fachwerkhäuser gebaut ist. Hier gibt es einen richtigen Waschsalon mit Bedienung zu dem offenbar vor allem Studierende zum Waschen herkommen. Jetzt macht alles Sinn.
Wir haben eine Stunde Zeit bis unsere Wäsche fertig ist und so stöbern wir durch die Geschäfte, die aus russischen und uns gänzlich unbekannten Ketten bestehen. In einem russischen Fast Food Franchise essen Pelemi und Burger. Ein sehr anti-touristisches Programm für den zweiten Tag in Novosibirsk.
Begegnungen
Auch in Novosibirsk werden wir überall freundlich gefragt woher wir kommen, ob in der Apotheke, der Putzerei, in der Hotelbar oder im Lokal. Wir scheinen aufzufallen, oder die Russ*innen tratschen einfach gern mit Fremden. Uns fällt jedenfalls auf, dass andere Tourist*innen rar sind. Der junge Kellner des Hotelrestaurants, Nikita, freut sich, dass er sein gutes Englisch beweisen kann und testet unsere Kyrillischkenntnisse.
Unsere Begegnungen sind die gesamte Reise hindurch bis auf eine Ausnahme durchwegs positiv, auch wenn die Sprachbarrieren leider nur oberflächliche Kontakte möglich machen. Nicht immer zu unserem Nachteil: Einmal überquere ich aus Versehen eine rote Ampel. Sofort kommt ein Polizist auf mich zu und schimpft etwas auf Russisch. Als ich schüchtern „English please…“ erwidere, winkt er aber sofort ab und geht zurück zu seinen Kollegen.
Flanieren am verseuchten Fluß
Am dritten Tag besuchen wir einen Markt und machen am Nachmittag einen Ausflug zum Fluss Ob. Dort gibt es eine Promenade zum Flanieren, einen Radweg (Radfahrende sind ein seltenes Bild) und einen heruntergekommenen Rummelpark. Die Luftschaukeln und Riesenräder knarzen wenig vertrauenswürdig, es gibt viele Schießbuden und hässliche Trampoline, aber es ist viel los.
Der Fluss selbst ist eine der wichtigsten Wasserstraßen Sibiriens und wird zur Energiegewinnung genutzt. Leider ist er extrem mit Rohöl verschmutzt und dazu gelangt auch noch radioaktiv verseuchtes Wasser des Karatschai-Sees über Grundwasserströme in den Ob.
Mindestens ebenso skurril ist unser Besuch im „Puppenhaus„, einem erstklassigen Restaurant für russische Hausmannskost. Gleichzeitig hat es auch die geschmackloseste Einrichtung, die ich je gesehen habe. Nicht einmal Stephen King hätte das Ambiente gruseliger gestalten können. Jede Nische dieses verwinkelten Gebäudes ist ein einem anderen Puppenhausstil gestaltet. Es wimmelt von Clowns, Figuren und Miniaturwelten. Nichts für feinfühlige Ästhetinnen und Ästheten, aber unser Essen schmeckt. Bärenfleisch lassen wir aus und essen stattdessen Steinpilzsuppe mit Zwiebelbrot, Wild und alles mit obligatorischem Sauerrahm (сметана, Smetana).
Unsere Weiterfahrt beginnt wieder in der Nacht, um 1 Uhr früh. Wir bekommen einen Late-Check-out und vertreiben uns die letzten Stunden bis zur Abreise im Hotelzimmer. Noch einmal duschen vor einer dreitägigen Reise schadet ja auch nicht! Unsere nächste Station wird Ulan-Ude sein.
(Nächster – ausnahmsweise sehr kurzer – Beitrag: Von Novosibirsk bis Ulan-Ude)