Seit sechs Tagen lebe ich nun im Barrio Walter Ferrety. Eines der Viertel Managuas in das viele Taxifahrer abends nicht oder nur unwillig fahren.
Ich wohne gemeinsam mit Ana, der Schwiegertochter Esmeraldas (die Chefin des Amucobu-Projektes), und mit ihren zwei 10- und 11-Jährigen Kindern Itzia Sky und Ledys Janitzia, die auch meine Schülerinnen sind, sowie mit Anas jüngeren Geschwistern die 23-jährige Daniela und der 21-jährige Daniel (welche politische Einstellung ihre Eltern haben, ist damit auch kein Geheimnis).
Das Haus ist typisch Nica: natürlich, alles ist sehr einfach, alles etwas improvisiert (Bierkapseln als Mutter für Schrauben), aber mit viel Liebe, Farbe und Krims-Krams verziert. Es gibt wenig Privatsphäre da es keine wirklich geschlossenen Räume gibt (aber immerhin muss ich mir mit niemanden das Bett teilen). Im Gegensatz zu den anderen, habe ich einen kleinen Raum für mich, mit Bett, Tisch, Sessel und Ventilator. Ana ist sehr darauf bedacht, dass ich mich wohl fühle und das ist gelungen.
Fließendes Wasser gibt es nur von 1 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags, danach wäscht man sich mit Kübeln. Das Klo wird sowieso immer mit einem Eimer gespült. Leider lässt sich die Tür zum Klo nicht schließen, so dass – wie bei vielen Nica-Klos – immer ein Spalt offen bleibt, aber auch daran gewöhnt man sich.
Es gibt einen kleinen Hinterhof in dem die Wäsche gewaschen wird und in dem ein Mangobaum steht, der uns ständig mit frischen Früchten versorgt (die kleine orangen Mangos, die am besten schmecken) und natürlich – sonst wäre das Haus nicht komplett – eine Hundin, die wahrscheinlich niemals in ihrem Leben Gassi gehen wird. Meistens wird die kleine „Perraita“ im Hof eingesperrt, ich vermute, sie soll sich an das Haus gewöhnen bis sie groß genug ist um allein spazieren zu gehen.
Itzia ist supergescheit und an allem interessiert – hier erklärt sie mir gerade warum es Tag und Nacht gibt
Ich mit Daniela und Daniel (und meinem neuen Kleid)
Mein Bett und mein persönlicher Held: der Ventilator
Gleich um die Ecke von Ana’s Haus wohnt la Doña Esmeralda selbst, gemeinsam mit ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn Gustavo (vom Amucobu-Projekt) und deren 5-jährigen Tochter Jireh. Abgesehen davon sind aber immer ein Haufen andere Familienmitglieder da, sodass ich schon völlig den Überblick verloren habe. Abends sitzen alle vor dem Haus wo ein frisches Lüftchen weht und genießen, dass es etwas abgekühlt hat. Gleich nebenan hat Esmeralda ihr Kleidergeschäft, in dem sie Ware, zweiter Hand verkauft. Jeder geht hier unterschiedlichsten Geschäften nach um sich sein Einkommen zu sichern.
Wie meine Mama ist Esmeralda auch „Floristin“
Leydis in ihrem Kostüm als Königin der Natur für den „Día de Reyes“ (Tag der Könige)
In unmittelbarer Nähe wohnen auch María vom Amocobu-Projekt und Brenda, die Direktorin des Colegios, gemeinsam mit ihren Familien. Ich bin also schon gut vernetzt.
Die ersten Tage hat mich Gustavo vom Haus abgeholt und mich auf den Weg in die Schule begleitet, aber mittlerweile gehe ich auch alleine zum Colegio oder zur Bushaltestelle. Wie gefährlich das Viertel wirklich ist, ist sehr schwer einzuschätzen für mich, denn ich sehe einfach nur Menschen, die ihren täglichen Arbeiten nachgehen. Außerdem fühle ich mich gar nicht so fremd, wie ich aussehe. Wenn ich durchs Dorf gehe, tönt es von überall her: „Hola teacher!“, so dass ich fast das Gefühl habe, ich würde hier schon ewig leben und jeden kennen. Natürlich, alle meiner fast 250 Schüler und Schülerinnen wohnen ja schließlich auch hier.
Essen ist in dem Preis den ich zahle (100 Dollar für 2 Wochen) inkludiert. Dieses besteht immer aus dem obligatorischen Gallo Pinto, Reis und rote Bohnen (jegliche Bohnen anderer Farben sind verpönt), frittierten Kochbananen und einem „Fresco“ (ein Fruchtsaftgetränk). Mindestens zweimal, oft dreimal am Tag. Dazu gibt es entweder ein Stück Käse, Eier oder etwas Fleisch. Zum Glück liebe ich Reis und Bohnen, mir kann also nichts passieren – außer dass ich zunehme, aber dafür hab ich auch schon einen Plan: Raggaeton.
Die Mädels haben mich gleich in die große Kunst des schweißtreibenden Lateinamerikanischen Tanzes eingewiesen. Die Kinder hier fangen ja oft schon mit 5-Jahren an eine Simulation des Geschlechtsverkehrs zu tanzen, wie ich es jetzt einmal geschönt ausdrücken möchte. Ich glaube, bei uns würde ein Kind geschimpft werden, wenn es sich so bewegen würde. Wäre ich nicht sowieso immer rot von der Hitze, würde es mir die Schamesröte ins Gesicht treiben. Nichtsdestotrotz bin ich entschlossen wenigstens einen Tanz zu lernen. Mit etwas Training (und dem Abwerfen aller Hemmungen) bringe ich meinen europäischen Hintern schon noch zum wackeln. Daniela hat mir dann gleich auch noch die Nägel dekoriert, wie es sich für eine Nica gehört.
Die Familie ist das Wichtigste Von der ersten Sekunde an, haben mich die Kinder „adoptiert“, mich mit Zuneigung überschüttet, mir 1000 Fragen gestellt, über alles mögliche geredet und mir auch gleich ein Kartenspiel beigebracht. Vor allem Daniela möchte alles über mein Leben in Europa wissen, sie ist noch nie weiter als bis zum Pazifikstrand gereist und meine Welt muss ihr so unfassbar fremd vorkommen. Vieles ist schwer zu erklären – nicht nur wegen meines Anfänger-Spanischs, sondern auch, weil mir immer klarer wird, wie anders die Mehrheit der Menschen in Europa lebt.
Dass ich Kontaktlinsen trage zum Beispiel oder dass ich mit meinem Freund zusammenlebe, obwohl wir nicht verheiratet sind. Aber vor allem, dass ich so weit weg von meinen Eltern lebe. Die Familien hier sind sehr stark verstrickt, teils aus kulturellen, teils aus finanziellen Gründen.
In Nicaragua gibt es sogar ein Gesetz, dass Kinder verpflichtet für ihre Eltern zu sorgen, wenn sie alt sind. Niemand wird ins Altersheim aufgenommen, wenn er eine Familie hat, die sich kümmern kann. Deshalb sind die Altersheime auch eher leer.
Familiäre Beziehungen sind den Leuten hier heilig, aber wenn du arm bist – und die überwältigende Mehrheit lebt finanziell stark am Limit – dann bedeutet Familie vor allem auch Sicherheit, denn ohne familiäre Unterstützung bist du verloren. Ja, es gibt die Kirchen, sie stehen an jeder Ecke, aber die meisten tun nicht viel außer predigen. Im Barrio gibt es glücklicherweise Esmeralda und ihr Amocobu Team, die auch eine Art Anlaufsstelle für allerlei Sorgen der Leute sind, sei es nun wegen Drogenabhängigkeit, Missbrauch in der Familie oder anderen Problemen.
Die Nicas spenden auch: Immer wieder steigen Menschen in den Bus ein und erklären in einer Ansprache warum sie Geld brauchen (meist weil sie oder ein Familienmitglied eine Krankheit haben) und im Vergleich zu Wiener U-Bahnen suchen doch sehr viele Menschen nach ein paar Cordobas in ihren Taschen.
Ohne Familie kann man in Nicaragua überleben, aber menschenwürdig leben kann man so nur mit einem der raren gut bezahlten Jobs.
Niemals werde ich die Verzweiflung und Einsamkeit jener jungen Frau vergessen, die bei Esmeralda um Hilfe angesucht hat. Am ganzen Körper zitternd, bemüht die Tränen zurückzuhalten, erzählte sie von ihrer Krankheit und dass sie an Selbstmord denke, weil sie die Schmerzen nicht mehr aushalte. Selbstmord ist bei den religiösen Nicas noch viel mehr undenkbar, als bei uns. Doch die Frau leidet an einer Form der Epilepsie und wenn sie nicht regelmäßig Medikamente gibt, wird ihr ganzer Körper von schrecklichen Krämpfen gebeutelt. Ihre eigene Mutter hat sie hinausgeworfen, sonst gibt es niemanden. Aber sie selber hat eine kleine Tochter um die sie sich kümmern muss. Ich habe keine Vorstellung davon, wie diese Frau ihren Alltag meistert. Die linke sandinistische Regierung hat zwar ein gratis Gesundheitssystem errichtet, aber das ist nur für akute Fälle zuständig. Die Behandlung chronischer Krankheiten kann damit nicht abgedeckt werden.
Insofern erscheint mir Esmeraldas Familienclan nicht „arm“, auch wenn es Geldsorgen gibt, denn sie sind reich an starken sozialen Beziehungen. Ein Grund warum ich ins Barrio gezogen bin, ist, weil ich verstehen möchte, wie die Leute mit ihrem geringen Gehalt zurecht kommen und diese starke Vernetzung scheint eine Antwort zu sein.
Ich finde es schön, das alles aus nächster Nähe miterleben zu können. Teilweise ist die Unsichtbarkeit und das Fehlen der Väter auffällig. Manche Dinge kann ich noch nicht beurteilen. Aber wie ein Schwamm sauge ich all die Eindrücke auf, versuche sie einzuordnen und zu lernen.
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