Seit ich zurück bin, werde ich natürlich oft gefragt, wie es denn so war in Nicaragua. Wenn ich dann von meinen Erfahrungen erzähle, die vor allem schön, aber auch traurig, herausfordernd und anstrengend waren, war so manche/r überrascht. Vielleicht weil unsere Vorstellungen von Lateinamerika-Reisen die Lebensrealität der Menschen verdrängen, die oft nicht so prächtig ist, wie die Landschaften und Kulturen des Kontinents. Erst gestern habe ich einen Artikel im Standard gelesen über den Ansturm minderjähriger Flüchtlinge aus Zentralamerika (Honduras, El Salvador und Guatemala – Nicaragua war in dieser Aufzählung nicht dabei), die der Gewalt und Aussichtslosigkeit in ihrem Land entkommen wollen.
Im Vergleich zu seinen nördlichen Nachbarn geht es Nicaragua gut. Korruption, Drogenkartelle und Bandenkriminalität existieren zwar, wie wahrscheinlich überall auf der Welt. Im Großen und Ganzen ist es aber ein sicheres Land, in dem die Menschen ihren Geschäften nachgehen können, ohne Schutzgeld zahlen zu müssen. Trotzdem ist es nach Haiti das zweitärmste Land Lateinamerikas. Dem Human Development Index zufolge, der aus dem durchschnittlichem Pro-Kopf-Einkommen, der Lebenserwartung und dem Bildungsgrad ermittelt wird, liegt Nicaragua von 179 Ländern auf Platz 121 (Österreich liegt auf Platz 16).
Wenn mich jemand fragt, wie die Nicas so sind, dann fällt mir als erstes das Wort tapfer ein. Viele wissen an manchen Tagen nicht wie sie Essen auf den Tisch bringen sollen und jeder hat mehrere Jobs um irgendwie über die Runden zu kommen. Auch das Team des von einer österreichischen Organisation unterstützten Amucobu-Projektes und die LehrerInnen der Privatschule Colegio Solidaridad entre los Pueblos kämpfen täglich mit finanziellen Problemen. Maria schneidert Tanzkostüme, Gustavo repariert Computer und knüpft Armbänder, Fatima schneidet Haare und verkauft Kosmetikartikel, Esmeralda, die Chefin von Amucobu näht und bestickt kunstvoll Decken, die sie an US-AmerikanerInnen verkauft und hat außerdem einen kleinen Second-Hand Laden in ihrem Haus. Brenda, die Direktorin der Schule verkauft Mittagsmenüs und Fruchtsäfte. Jorge, der dauergestresste Vizerektor arbeitet nachmittags noch in einer anderen Schule und studiert nebenbei. Um sich ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, müssen die meisten Lehrer und Lehrerinnen in zwei Schulen unterrichten, was dadurch funktioniert, dass es Vormittags- und Nachmittagsschulen gibt. .
Faulheit kann man den Nicas beim besten Willen nicht vorwerfen. Bettler gibt es relativ wenige, die meisten Menschen tun irgendetwas – und sei es nur, die Fensterscheiben der Autos zu putzen. Ja, die Straße ist ein Marktplatz: Selbstgemachte Speisen oder Raubkopien von Musik und Filmen werden ebenso angeboten, wie Möbelstücke, Sonnenbrillen oder lebende Eichkätzchen als Haustiere und Leguane für den Kochtopf. Man schuftet, hilft sich gegenseitig und zu guter Letzt vertraut man auf Gott.
Armut ist Interpretationssache
Der Schule in der ich gearbeitet habe, wurden in den letzten Jahren immer weiter die finanziellen Unterstützungen gekürzt, bis sie dieses Jahr gänzlich ohne äußere Subventionen dastanden. In manchen Monaten weiß die Schulleitung nicht, wie sie das Lehrpersonal bezahlen soll. Neue Ideen müssen her, denn die Eltern können nicht noch mehr Schulgeld zahlen und von der Regierung gibt es keinen Centavo. Esmeralda und ihr Team überlegen Patenschaften anzuregen, durch die reiche AmerikanerInnen einem Kind aus Walter Ferrety einen Schulplatz finanzieren. Sie planen eine Talentshow mit Tombola um Spenden einzutreiben. Irgendwie geht es immer weiter. Egal wie ausweglos die Situation ist, irgendwie finden die Nicas dennoch immer Lösungen für ihre Probleme.
Die Menschen, die ich kennengelernt habe, würden sich nicht als arm bezeichnen. Arm sind Menschen die schwer krank sind, keine Familie haben oder in Kriegsgebieten leben. In Nicaragua hat man den Krieg hinter sich, über 29.000 Menschen sind im blutigen Konflikt zwischen den Revoluzzern, den Sandinistas (die Nicaragua von dem grausamen Regime Somozas befreit haben) und deren Gegner (kräftig unterstützt von den USA) ums Leben gekommen. Der Frieden, der mit den Wahlen 1990 und dem Machtverzicht der Sandinistas eingeleitet wurde, ist jung aber stabil, die Menschen haben genug vom Krieg. Aber nun muss sich das Land, das mittlerweile wieder von (einem Abklatsch) der sandinistischen Partei regiert wird, mit Problemen wie Arbeitslosigkeit, fehlender Infrastruktur und langsamen Wirtschaftswachstum herumschlagen. Doch statt Sportplätze in den ärmeren Vierteln oder Häuser, die einem Erdbeben standhalten, zu bauen, wird durch ganzjährige Weihnachtsbeleuchtung Energie verschwendet. Statt den Markt zu regulieren, damit die Grundnahrungsmittel Reis und Bohnen für alle leistbar bleiben, verteilt die Regierungspartei in populistischen Aktionen Bohnen zu einem günstigeren Preis in den sozialschwachen Gegenden.
Ich will hier aber nicht ur- sondern miteilen, welche Erfahrungen ich während meiner Zeit in einem der vermeintlich ärmsten Länder der Welt gesammelt habe. Es ist ein Versuch ein ausgewogenes Bild zu liefern, zwischen dem Fakt, dass die meisten Menschen in Nicaragua im Vergleich zu den meisten Menschen in Österreich, finanziell und sozial stark limitiert sind und der Tatsache, dass ich dennoch Walter Ferrety und seine BewohnerInnen nicht als arm empfunden habe. Armut ist relativ. Schulden, abgestellter Strom wegen unbezahlter Rechnungen, ein undichtes Dach durch das der Regen dringt, sich keinen Urlaub leisten können… alles Dinge, die Menschen überall auf der Welt betreffen, nur hier ist es eine kollektive Erfahrung, die Menschen kennen es so und wirken nicht unzufriedener als der Durchschnittseuropäer. Im Gegenteil. Oftmals kamen sie mir zufriedener vor, als die meisten Menschen, die ich kenne. Sie sind nicht arm, weil sie keine Opfer sind.
Reiche hinter Mauern
An meinem vorletzten Tag in Nicaragua habe ich an einem Schulausflug anlässlich des Muttertags teilgenommen. Die Direktion hatte einen Bus organisiert, kiloweise Arroz Valencia gekocht und nachdem ein Regenschauer die Abfahrt zwei Stunden verzögert hatte (weil bei Regen niemand das Haus verlässt) sind wir Richtung Vulkanlagune gefahren, einer meiner Lieblingsorte in Nicaragua. Zum ersten Mal war ich am öffentlichen Strand, dort wo alle Nicas hingehen. Zuvor war ich immer in einem der hübschen Resorts gewesen. Bei sieben Dollar Eintritt für den Tag und keinen Einheimischenrabatt ist es kein Wunder, dass sich dort hauptsächlich TouristInnen aufhalten. Auf der Fahrt dorthin, gleich nachdem sich der Bus aus den engen Gassen des Viertels Walter Ferrety mit seinen Wellblechhütten und Dreckbergen gezwängt hatte, durchfuhren wir das reiche Villen-Viertel Las Colinas, in dem riesige, schicke Häuser von dicken Mauern und Wächtern von der vermeintlich gefährlichen Außenwelt abgeschirmt werden.
Meine Sitznachbarin Ana, in deren Haus ich für zwei Wochen gewohnt habe, macht sich beim Anblick der Mauern lustig und meint, sie würde hier nicht Leben wollen, da kein Leben auf den Straßen sei und niemand mit dem Nachbarn reden könne. Sie lebt auf engsten Raum, in sehr bescheidenen Verhältnissen, aber in Las Colinas würde sie sich wohl sehr verloren und einsam vorkommen.
Doch natürlich möchte ich nichts glorifizieren. Die Armut zeigt sich in gesundheitlichen Beschwerden wie Diabetes, Bluthochdruck, Herzrasen, Migräne als Folge von Stress, schlechter Ernährung und unzureichender ärztlicher Behandlung. Sie zeigt sich in Geschlechtskrankheiten, hohen HIV-Ansteckungsraten, Minderjährigen mit Schwangerschaftsbauch und Kindern, die hungrig in die Schule kommen und sich vor lauter Bauchweh nicht auf den Unterricht konzentrieren können. So viele Probleme, die ich nur am Rande mitbekommen habe, da die Leute mich meistens angestrahlt und mir neugierige Fragen gestellt haben, anstatt über ihr Schicksal zu lamentieren. Diese Momente gab es natürlich auch. Es waren die Schwierigsten, denn außer zuhören konnte ich gar nichts tun. Es war daher umso berührender für mich, als mir die Menschen bei meinem Abschied gedankt haben, einfach für meine Präsenz, dass ich ihren Alltag etwas erheitert habe, weil ich eine Abwechslung war. Niemals habe ich Neid oder Erwartungen gespürt.
Und da bin ich nun zurück in Österreich mit meinen Zukunftssorgen und meiner Wehleidigkeit. Ich denke, das ist ok, denn ich bin nicht aus Walter Ferrety. Aber in Momenten der Angst, da denke ich an das Viertel und an die Tapferkeit der Menschen dort. Das gibt mir Kraft. Eine Stärke tief in mir drin, gewonnen in Nicaragua.
Ein paar Bilder aus Walter Ferrety (viele habe ich nicht, da es schwierig war zu fotografieren):